Der Mut

 

 

Mut ist, ähnlich wie die Liebe, nur sehr schwer zu erklären. Er kann sich auf unterschiedliche Art und Weise zeigen. Oft ist das, was Mut zu sein scheint, etwas ganz anderes.

Kann jemand angesichts des Todes Mut zeigen, wenn es für ihn nichts mehr gibt, für das weiter am Leben zu bleiben lohnt? Ist das Mut, wenn ein Mann sich aus falschen Beweggründen Gefahren aussetzt? Ist es auch dann noch Mut, wenn er vorher zu feige war, sich gegen die Mehrheit zu erheben? Zeigt ein Samurai Mut, wenn er seine Gegner dazu benutzen, um aus dem Leben zu scheiden, weil er unfähig ist, Seppuku zu begehen?  

Richtiger Mut kann nur von jemandem gezeigt werden, der sein Leben liebt. Auch wenn er das Leben liebt, muss er in der Lage sein, ein Risiko - so gross wie notwendig - auf sich zu nehmen, um eine Aufgabe zu erfüllen, die ihm wichtiger scheint als sein Leben. Für manche ist die Verteidigung ihrer Ehre eine solche Aufgabe. Für andere die Verteidigung ihrer Familie und/oder ihres Landes.  

Ein Kind kann sich auf verschiedene Art und Weise Mut aneignen. Die Eltern sorgen dafür, dass keine Herausforderung für das Kind in einer Niederlage endet. Die Weisheit dieses Handelns ist zu bezweifeln. Früher oder später wird jeder den Geschmack der Niederlage kennen lernen.  

Natürlich sollte der Karate-Anfänger nicht durch all zu viele Niederlagen entmutigt werden. Aber er muss lernen, mit Niederlagen umzugehen, sie zu verarbeiten. Schafft er dies nicht, so mündet für ihn bereits die erste echte Niederlage in eine schreckliche persönliche Katastrophe.  

Die beste Methode, Mut zu unterrichten, ist die, Beispiel zu geben. Mutig zu sein erlernt man, indem man sich den Mut einer Person, die man respektiert, als Beispiel nimmt. Darum sollte sich der Trainer bemühen, Karate-Anfänger mit erfahrenen, beherzten und mutigen Mitgliedern üben zu lassen. Feiglinge müssen allerdings unmissverständlich gerügt werden. Doch der Trainer sollte diese Feigheit seiner Schüler als persönliche Niederlage empfinden. Er muss seine Trainings- und Unterrichtsmethoden nämlich so anlegen, dass Mut gerade bei denen gefördert wird, die von Natur aus eher ängstlich agieren. Wie sehen solche Trainingsmethoden aus?  

Der Anfänger muss verstehen, dass jeder Mut entwickeln kann, wenn er sich ernsthaft darum bemüht. Weiter muss er begreifen, dass am Schluss er selbst für seine Fortschritte verantwortlich ist. Immer wieder sollte er sich Herausforderungen stellen und gleichzeitig überlegen, wie er damit fertig wird. Angst kommt nämlich erstens von Unwissenheit und zweitens davon, dass man total unvorbereitet erwischt wird. Tagtäglich muss sich der Anfänger sagen, dass er mutiger und mutiger wird, und den alten Spruch der besagt: Alles, alles auf dieser Welt ist schon einmal vorgekommen, grosser Mut wie kriecherische Feigheit. Hält sich der Anfänger diese Vergänglichkeit vor Augen, wird es ihm leichter fallen, sich jederzeit als mutig zu erweisen. Belohnen möge man seinen Mut, vergessen machen seine Feigheit.  

Der junge Karateka muss auch verstehen, das Mut nicht notwendigerweise eine überstürzte Reaktion darstellt, die zur Niederlage führt. Eher scheint eine ruhige und abgeklärte Beurteilung der Situation als der vielversprechendste Weg zum Sieg. Der mutige Mann ist kein lauter Prahler, der immer den allergefährlichsten Weg beschreitet. Vielmehr behält er selbst im Angesicht höchster Gefahr seine Selbstkontrolle, und zwar gerade dann, wenn seine Kameraden schon in Panik geraten. Eine mit kühlem Mut und schneller Entschlossenheit durchgeführte Aktion sollte der Vorsatz  jedes Karateka sein.  

Mut ist aber auch stets gepaart mit Erfahrung. Nur wenige Männer zeigen Mut, wenn sie unter ungewöhnlichen Druck geraten und ihm hilflos ausgesetzt sind. Als Beispiel: der an Land geübteste Kämpfer kann seinen Kopf in einem Sturm auf hoher See verlieren, während die Matrosen ruhig und gelassen bleiben. Umgekehrt jedoch ist es der Seemann, der während eines nächtlichen Angriffs in den Bergen seinen Kopf verliert und in Panik gerät. Der junge Karateka sollte nicht zögern, jede mögliche Erfahrung zu sammeln, in jeder nur denkbaren Situation, gegen jeden nur denkbaren Gegner.  

Die Beherrschung der Technik ist der Begleiter des Muts. In dem Mass, in dem der Karateka seine zunehmende Fertigkeit im Umgang mit der Technik erkennt, gewinnt er auch Selbstvertrauen. Er wird auch in der Lage sein, Gegnern gegenüberzutreten, die er früher fürchtete. Und er beginnt auch Freude an einem Kampf zu empfinden, der ihn früher noch in Angst und Schrecken versetzt hat.  

Schöpferische Phantasie fördert durchaus den Mut. Der Lernende muss sich jede Übung als Teil eines richtigen Kampfes mit richtigen Gegnern vorstellen. Egal ob er alleine übt oder mit einen Partner. Er soll sich immer vorstellen, dass er mit einem furchterregenden Feind kämpfen muss. Tut er dies regelmässig, wird er sich bald an die Vorstellung eines wirklichen Kampfes gewöhnt haben und nicht mehr allzu viele Überraschungen beim Kämpfen erleben.  

Einige Menschen scheinen schon mit Mut auf die Welt gekommen zu sein. Vermutlich hatten sie aber gute Beispiele in ihren Vätern. Andere müssen erst lernen, Mut zu entwickeln. Aber jeder kann es, wenn er nur hart genug trainiert. Ein Feigling ist jemand, der sein volles Potential an Mut noch nicht ausgeschöpft hat.  

Mut ist zusammengesetzt aus vielen Faktoren: Mut verlangt die richtige Philosophie, ein überragendes Beispiel, solides Training, reichhaltige Erfahrung, Beherrschung der Technik und dazu Einfallsreichtum.  

Doch vor allem verlangt Mut Motivation und Anstrengung. Viele Karatekas wurden besiegt von ihrer eigenen Furcht, und nicht von einem geschickten Gegner. Deshalb darf die Förderung von Mut in der Entwicklung eines Karatekas auf keinen Fall vernachlässigt werden.